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kanthari

Der Tag meines Aufbruchs

    Der Tag meines Aufbruchs

    In dieser Serie hören wir von den Teilnehmenden des Kurses 2025. Esther Oke wuchs in einem nigerianischen Dorf auf und wagte es, ihr Medizinstudium gegen den Willen ihrer Eltern abzubrechen. Durch Kunst und Unternehmertum fand sie ihre Berufung und stärkt heute Mädchen im ländlichen Nigeria, damit sie eigene Wege gehen können.

    Als ich hinausging – und mich selbst fand

    Von Esther Oke

    Ich war im dritten Studienjahr und saß gefangen in einem Hörsaal, den ich hasste. Der Professor redete über komplizierte Formeln, doch für mich war es nur Lärm. Ich fühlte mich wie eine Hochstaplerin, die vorgab, eine Studentin zu sein. Wieder blickte ich auf das Foto der einzigen Klinik unseres Dorfes, das ich hinten in meinem Notizbuch aufbewahrte, und erinnerte mich an die Worte meines Vaters: „Deshalb gehst du dorthin.“ Diese Worte fühlten sich an wie ein lebenslanger Schuldspruch. Als der Unterricht zu Ende war, traf ich eine Entscheidung. Ich stand auf, ging hinaus – und blickte nie zurück.

    Meine Kindheit verbrachte ich in einer eigenen Fantasiewelt. Ich zeichnete im Hinterhof auf die Ziegelwand, redete mit mir selbst und lachte allein. Nachbarn hielten mich für „besessen“, und meine Mutter schlug mich, wenn sie mich so fand. Eigene Träume auszusprechen wagte ich nicht – mein Vater, ein engagierter Krankenpfleger, hatte meinen Weg längst festgelegt. Er baute unsere Dorfklinik und sagte oft mitten in der Nacht: „Esther, du musst Ärztin werden und diese Arbeit fortführen.“ Aus Pflichtgefühl lernte ich hart und schaffte es schließlich an die beste medizinische Hochschule des Landes. Das Dorf feierte, und alle glaubten, ich hätte meinen Platz im Leben gefunden.

    Dann kam eine lebensbedrohliche Diagnose, und ich musste operiert werden. Auf dem Heimweg vom Krankenhaus sah ich am Straßenrand ein Kunststudio. Ich konnte die Bilder, die ich nur für Sekunden gesehen hatte, nicht vergessen. Ich flehte meine Eltern an, mich dorthin zu lassen. Zögernd stimmten sie zu, weil sie wollten, dass ich schnell gesund wurde. Zwei Monate lang ging ich zweimal pro Woche dorthin. Das waren die schönsten Tage meiner Teenagerjahre, und ich verstand: Kunst hat Wert.

    Esther Oke findet Freude in Kunst

    Nach meiner Genesung musste ich an die Universität zurückkehren. Finanziell war ich anders als die meisten Studierenden – während sie ihre Abende mit Feiern verbrachten, verkaufte ich Essen am Straßenrand. Die Erinnerungen an die Freude im Kunststudio machten mir bewusst, dass ich keine Ärztin werden wollte. Doch ich wollte meine Familie nicht enttäuschen. Nach drei Jahren beschloss ich, mein Studium abzubrechen. Meine Familie war schockiert und am Boden zerstört. Mein einziger Bruder sprach nicht mehr mit mir, und auch die kleine Unterstützung von zu Hause wurde gestrichen, um mich „zur Vernunft zu bringen“. Aus Wochen wurden Monate; ich war allein und blickte einer ungewissen Zukunft entgegen.

    Ich kehrte zu meinem Zeichenbrett zurück – und fühlte mich wieder lebendig. Ich brachte mir selbst Malen, Schuhmachen, Backen und digitales Design bei. Ich begann freiberuflich zu arbeiten, stellte meine Werke in Ausstellungen aus und eröffnete mein eigenes Studio.  Dieses neue Gefühl von Sinn half mir, genug Geld zu sparen, um mit einer Freundin nach Owo zu reisen, wo wir anderen jungen Menschen etwas beibringen wollten. Wir stellten fest, dass die Jugendlichen dort untätig waren und keinen Sinn im Leben sahen. Wir nahmen Kontakt zu einer öffentlichen Schule auf, wo ich heimlich in einem Klassenzimmer schlief und früh aufstand, um nicht entdeckt zu werden.

    Als wir eine große Lücke an Fähigkeiten bemerkten, begannen wir, alles zu unterrichten, was wir konnten: Backen, Handwerk, Catering. Die Jugendlichen begannen sich zu verändern – durch die neuen Fähigkeiten gewannen sie ein Gefühl von Sinn und Orientierung, viele wurden erfolgreiche Unternehmerinnen. Ihr Denken wandelte sich, und sie begannen, ihren eigenen Wert zu erkennen.

    Im ländlichen Nigeria stoßen Mädchen auf systematische Hürden, die ihr Potenzial zerstören. 40–50 % der jungen Frauen sind weder in Ausbildung noch in Beschäftigung oder Training, und die Kinderheiratsrate ist doppelt so hoch wie in Städten. Viele Mädchen sehen ihre Zukunft verbaut: Jede fünfte Nigerianerin zwischen 15 und 19 ist bereits Mutter und bricht ihre Ausbildung oft zugunsten häuslicher Pflichten ab.

    Die Ursachen sind tief verwurzelt: patriarchale Normen, die weibliche Bildung abwerten, fehlende Berufsorientierung und Vorbilder sowie finanzielle Hürden, durch die Familien keinen Wert darin sehen, in die Zukunft ihrer Töchter zu investieren. Zwar gibt es Programme für Berufsausbildung, doch es fehlt entscheidend an der Förderung von Neugier, Resilienz und Selbstführung – Fähigkeiten, die Mädchen brauchen, um ihren eigenen Weg zu gehen. Heute ist es meine Mission, diese Lücke zu schließen: Mädchen im ländlichen Nigeria zu stärken, ihnen Selbstvertrauen und Visionen zu vermitteln, damit sie erfüllte Leben gestalten können.