Covid19 und die Generation Z – Ein Jahr nach dem Lockdown
In unserem Blogpost vom 10. Mai 2020, nach einem dreimonatigen Lockdown, sprachen wir mit Abhijit Sinha, einem kanthari-Absolventen aus dem Jahr 2015. Lesen Sie den “Covid und die Generation Z” blog post von 2020 hier
Abhijit ist Gründer von Project DEFY (Design Education for yourself). Er richtet in Indien und Afrika sog. “Nooks” ein. Das sind kleine Maker-spaces, in denen jeder erfinden, bauen, forschen und lernen kann. Sein großes Thema sind “Schulen ohne Lehrer”.
Unsere Frage ist nun, ob die Covid-Krise mit Schulschließungen, die mehr als ein Jahr andauern, ein gutes Testfeld für die Neugestaltung der global recht veralteten Bildungsstrukturen bietet.
Abhijit, der zurzeit in Simbabwe seine Nooks in kleinen Gemeinden integriert, sah die Schul-Schließung damals als etwas sehr Positives. “Ich denke, drei Monate keine Schule ist nicht so schlimm. Es ist eine Zeit, um sich ein wenig auszuruhen. Um herauszufinden, was man wirklich will. Wann bekommen diese Kinder in ihren 20 Jahren Schulzeit noch einmal eine solche Chance?” Am Ende des Interviews stellte er die Frage: “Können wir diesen Lockdown nutzen, um einander näher zu kommen?”
kanthari: Jetzt ist fast ein Jahr seit unserem letzten Interview vergangen und die Situation hat sich verschärft. Die Schulen in Indien haben noch immer nicht wieder geöffnet. Die Prüfungen der 10. Klasse wurden abgesagt und die Schüler der 12. Klasse müssen damit rechnen, dass ihre Prüfungen auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Damals warst Du der Meinung, dass drei Monate keine große Sache ist. Wie denkst Du heute über die Situation?
Abhijit: Oh, es ist immer noch keine große Sache. Aber letztlich ist das Schulsystem darauf ausgelegt, Lehrpläne einzuhalten und vorgegebene Richtlinien abzuhaken. Das System ist nicht wirklich daran interessiert, dass jemand etwas lernt. Der einzige Fokus liegt auf den vierteljährlichen oder jährlichen Prüfungen und natürlich auf dem eventuellen Wechsel in die nächste Klasse. Wenn Lernen das Kriterium wäre, hätten die Entscheidungsträger anders gehandelt. Aber das war eindeutig nicht der Fall.
kanthari: Gibt es Erfahrungswerte, dass Kinder in der Zeit des Lockdowns etwas gelernt haben?
Abhijit: Auf jeden Fall. Wir lernen besonders durch Herausforderungen, durch harte Zeiten. Selbst während der strikten Ausgangssperren, versuchten die Erwachsenen, ihre Situation zu Hause zu verbessern, alternative Einkommensmöglichkeiten zu finden, Geschäfte neu zu starten, usw. Die Kinder versuchten zu verstehen, was sie noch tun könnten, da sie ja nicht täglich in der Schule waren. Leider waren sie gezwungen, ihr Studium durch Online-Kurse fortzusetzen. Auch wenn die Arbeit zum Stillstand gekommen war, die Kinder mussten immer vor dem Computer sitzen.
kanthari: Und wie war es für DEFY?
Abhijit: Nach den ersten sechs Monaten Lockdown in Indien, wir hatten jetzt schon einige Zeit mit den unterschiedlichsten Gemeinden gearbeitet, haben wir oft über den Sinn unserer Arbeit nachgedacht. Die Situation hat auch uns hilflos gemacht. Allerdings sahen wir, dass es in vielen Familien das dringende Bedürfnis gab, gemeinsam etwas zu tun und gemeinsam zu lernen. Die Menschen erkannten die Notwendigkeit, während einer solchen Pandemie näher zusammen zu rücken.
kanthari: Wie Du bereits erwähnt hast, ist eines der wichtigsten Zielsetzungen unserer Regierung, Prüfungen zu bestehen. Allerdings wurden kürzlich wichtige Prüfungen abgesagt. Wer wird nun mehr in Panik geraten – die Kinder oder die Eltern?
Abhijit: Es hängt wirklich davon ab, inwieweit es den Eltern gelungen ist, den Kindern den vermeintlich großen Stellenwert von Prüfungen einzutrichtern. Ab einem gewissen Punkt werden die Kinder genauso panisch wie ihre Eltern. Insgesamt ist der Fokus auf die Prüfung und die jetzige Panik, die überall aufkommt, ein Symptom für die Gehirnwäsche, die man über Jahre an Erwachsenen und Kindern vorgenommen hat: Erfolg ist proportional zu den Prüfungsergebnissen. Dem Lernen im Hier und Jetzt wird sehr wenig Bedeutung beigemessen. Ich bin der Ansicht, dass das Bildungssystem sich mit einer anderen Form des Lernens ohne Prüfungen auseinandersetzen muss. Wir müssen dafür alternative Methoden in dieser Zeit entwickeln.
kanthari: Was könnten Schulen also tun?
Abhijit: Ich bin mir nicht sicher, was sie tun können und ob sie wirklich die Ressourcen haben, überhaupt etwas zu tun. Was sie haben, ist ein Raum, der im Moment nicht genutzt werden kann. Das Einzige, was Schulen meiner Meinung nach Gutes tun, ist, die Schaffung eines physischen Raumes, in dem Kinder zusammenkommen können. Das kann aber leider dieses Jahr nicht passieren. Was die Schulen meiner Meinung nach tun müssen, ist, aufhören “Schule” sein zu wollen. Sie sollen vergessen, dass man früher Kinder in Klassenräume gesperrt hat. Die Schulen sollten sich auflösen und die Lehrer sollten sich in die Nachbarschaft begeben, um selbst zu lernen was für die Kinder relevant ist. Sie müssen damit beginnen, eine neue Art des Lernens zu erfinden. Das ist nicht so kompliziert, man sieht sich einfach nur mal an, wie man in der Natur und von der Natur lernen kann. Covid hat uns eine grosse Chance gegeben, leider nutzen wir diese nicht. Man ist auf die vier Wände des Klassenzimmers geeicht und darüber hinaus wird es nicht gehen.
kanthari: Konntest Du diese Situation nutzen, um die Leute von der Notwendigkeit des alternativen Lernens zu überzeugen?
Abhijit: Ich hoffe wirklich, dass meine Überzeugungskraft nicht nur durch eine Krise wie diese funktioniert. In den ersten Monaten haben viele Eltern darüber nachgedacht, was Bildung sein könnte und sie haben über ihre eigene Rolle nachgedacht. Aber als der Online-Unterricht begann, habe ich diese Reflektion vermisst. Alle verfielen in eine Art Wartemodus. In gewisser Weise ist die Situation wieder erstarrt. Es gibt einen neuen alten Status Quo. Die Leute sind wieder taub geworden, sie hören nicht mehr auf alternative Ideen. Allerdings hören wir nicht auf, unsere Nooks einzurichten. Sobald wir in kleine Gemeinden gehen, und Schulen ohne Lehrer vorstellen, gibt es tatsächlich Veränderung. Aus direkter Anschauung können die Leute unsere Ansätze nachvollziehen. Wir haben das “FLITE Projekt” eingeführt. FLITE ist ein Mikro-Bildungsmodell, das in Haushalten eingesetzt werden kann. So können Familien während der Schulschließung Zugang zum Lernen gewinnen. Es ist ein bisschen so, als ob Fremde in einer Nische zusammenkommen, um zu lernen. Aber hier sind es die Familien, die zusammenkommen und gemeinsam etwas entwickeln. Wir begleiten Sie über Telefon und Internet für einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten dabei.
kanthari: Wenn Familien viel Zeit miteinander verbringen, kann es auch zu Gewalt und Missbrauch kommen. Was ist Deine Erfahrung?
Abhijit: Durch unsere Mitarbeiter haben wir erfahren müssen, dass die Gewalt in den Häusern oft sehr schlimme Ausmaße hat. Aber es hat geholfen, dass jemand aus unserem Team mit den Familien im ständigen Austausch war. Das macht die Leute ein wenig verantwortungsbewusster. Die Kommunikation von unserer Seite sorgt dafür, dass die Familien verstehen, dass das, was zu Hause passiert, nicht nur zu Hause bleiben darf. Als wir mit dem FLITE Projekt starteten, überlegten wir noch, ob wir mit einem Einkommen oder Fähigkeiten-Erwerb helfen sollen. Das war doch, was alle anderen NGOs planten. Aber das Feedback der Familien war ein anderes: Das Beste an diesem FLITE Projekt sei gewesen, dass jemand ihnen zugehört hat. Es war überraschend, aber auch ermutigend. Wir haben unser Projekt so entwickelt, dass sich Zuhören und Lernangebote in der Balance halten. Speziell zur Bekämpfung von Missbrauch haben wir Flyer mit Spielen erstellt, bei denen man heimlich eine Nachricht verschicken kann. Das ist noch nicht sehr weit entwickelt aber wir experimentieren weiter.
kanthari: Wie wird dieses Jahr für Project DEFY aussehen?
Abhijit: In gewisser Weise wird dieses Jahr schlimmer sein als das letzte Jahr, weil es so viele Todesfälle gibt und das Gesundheitssystem zusammenbricht. Aber selbst in einer solchen Krise müssen wir nach Möglichkeiten suchen, das zu tun, was wir tun können. Es hat keinen Sinn, viel zu planen, denn wir können nichts mehr vorhersagen. Es kann sein, dass wir nicht einmal in der Lage sind, unser Haus zu verlassen. Wir müssen wirklich flexibel sein, um sicherzustellen, dass diese Pandemie uns nicht kaputt macht. In unserem Team hat zum Glück jeder eine klare Aufgabe und wir arbeiten Tag und Nacht. Das wird sich auch in diesem Jahr nicht ändern.